Politik und Gesellschaft
neuere Einträge ...Die Wahlergebnisse in Oberösterreich: Bildung, anyone?
Wieder einmal wird diese Wahl zum Lehrstück darüber, worans in erster Linie mangelt in unserer Gesellschaft. Aber beginnen wir mit dem Positiven:
- Es kommt nach zwölf Jahren zu einem Wechsel an der Spitze, die alte „Koalition“ (das Wort ist aufgrund des Proporzsystems in Oberösterreich eigentlich unangebracht) geht sich rechnerisch nicht mehr aus. Man kann zum schwarz/grünen „Arbeitsübereinkommen“ inhaltlich stehen, wie man will, aber es existiert in dieser Form seit 2003. Zum Vergleich: Auf Bundesebene wurde damals die Regierung Schüssel II angelobt. In einer Demokratie darf sich ruhig mal was ändern.
- Die wirtschaftsliberalen NEOS scheitern - wie zuvor schon im Burgenland und in der Steiermark. Die Wähler verstehen offenbar immer weniger, wozu dieser 80er-Jahre-Thatcherismus noch gut sein soll. (Besonders widerwärtig: Sowohl in Oberösterreich als auch im laufenden Wiener Wahlkampf haben die NEOS versucht, durch „erfolgsabhängige Inseratenpreise“ die redaktionelle Berichterstattung der Medien zu manipulieren. Je besser das Wahlergebnis, desto höher die nachträgliche Bonuszahlung fürs Inserat.)
- Die Grünen haben nicht nur zum zweiten Mal in Folge dazugewonnen (was für eine Regierungspartei eher ungewöhnlich ist), es wurde auch ihre Politik belohnt: Unter den häufigsten Wahlmotiven findet sich die
bisher beste Arbeit
und diebeste Vorschläge für die Zukunft Oberösterreichs
.
Wie siehts nun auf der negativen Seite aus? Was hab ich zu bemängeln?
- 96% der FPÖ-Wähler wählten die blauen Pöbler, weil sie ihnen
die beste Kompetenz in der Flüchtlingssituation
attestierten. Mich schreckt dabei jetzt nicht in erster Linie, daß jemand die Linie der FPÖ für die beste bei diesem Thema hält. Mich schreckt, daß jemand das zur Grundlage seiner Wahlentscheidung bei einer Landtagswahl macht, bei der die politischen Weichen für die nächsten sechs Jahre gestellt werden. Der oberösterreichische Landtag kann weder das Asylrecht verschärfen noch die von freiheitlichen Wählern vielleicht gewünschten Grenzkontrollen im Osten und Süden der Republik durchsetzen. Der Landtag darf Themengebiete wie Jugendschutz, Kindergärten, Naturschutz, Raumplanung, Abfallbeseitigung, Fischerei sowie Schischul- und Bergführerwesen regeln. Was denken sich die Leute dabei? Waren die nie in der Schule?
Das wars dann auch schon. Natürlich ist es nicht schön, wenn eine Partei ihre Stimmenanzahl verdoppelt, deren Wahlkampf nur aus Lügen und Hetze besteht. Viel schlimmer aber finde ich, daß es Menschen gibt, die ihr Wahlrecht so sorglos wegwerfen und tatsächlich auf diese „Wirtshauskompetenz“ hereinfallen. Ich sags gern, daher sag ichs oft: Das Wahlrecht ist verbunden mit der Pflicht, sich zu informieren. Nicht jene Partei darf gewählt werden, deren Wahlkampf die größte Hetz ist und deren Schlachtreden einen das eigene Versagen im Leben als die Schuld anderer erscheinen lassen. Gewählt werden soll, wer in der letzten Legislaturperiode besonders konstruktiv aufgefallen ist und sich für die kommenden Jahre die sinnvollsten Konzepte ausgedacht hat.
Voraussetzung dafür ist, daß man über ein Minimum an Bildung verfügt - und daß in den Bildungsinstitutionen möglichst früh und flächig die Grundzüge des politischen Systems in Österreich gelehrt werden. Es darf einfach nicht passieren, daß jemand die in österreichische Pflichtschulausbildung absolviert und die Kompetenzen der Gebietskörperschaften nicht zumindest ungefähr kennt. Die Sache mit Oberösterreich und dem Flüchtlingsthema ist ja kein Einzelfall: Ich habe im Internet Wahlempfehlungen für den Wiener Gemeinderat (und sogar für den den Nationalrat!) gelesen, weil ein Bezirk irgendwo eine Bodenmarkierung auf der Straße anbringen hat lassen und sich jemand fürchterlich darüber geärgert hat. Das ist an sich schon himmelschreiender Unfug, wird aber endgültig zum Kasperltheater, wenn Bezirk, Gemeinderat und Nationalrat politisch unterschiedlich besetzt sind und man aus Ärger über die Bodenmarkierung just jene Partei für den Gemeinderat wählt, die sie auf Bezirksebene beschlossen hat.
Und daran scheiterts: an der Bildung. Kein Hauptschüler geht in Wien ins Berufsleben mit dem Wissen, was im Rathaus beschlossen wird und was in der Bezirksvertretung. Kein Lehrling in Oberösterreich weiß, welche Kompetenzen der Landtag hat. (Und wenn sie's wissen, dann aus dem Internet und nicht aus der Schule.) Nicht einmal für einen AHS-Maturanten lege ich meine Hand ins Feuer: An unserer Schule wurde viel über Politik gesprochen. Das lag aber wohl eher am persönlichen Interesse der Schüler und einiger Lehrer. Ob das auch so im Lehrplan steht, wage ich zu bezweifeln. In einem Land, in dem völlig absurderweise schon mit 16 Jahren gewählt werden darf, muß die Schule diesen politischen Auftrag erfüllen. Bildung lautet also das zentrale politische Thema. Alles andere - Arbeitsmarkt, Sicherheit, Wohlstand und auch Asylrecht - folgen nach, weil eine Diskussion über diese Themen ohne Bildung nicht möglich ist. Wie sieht das die FPÖ?
Das Vermitteln der Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens, der umfassende Erwerb von Wissen, Kompetenzen und Fertigkeiten, das Fördern individueller Talente und Begabungen, die bestmögliche Ausbildung als Vorbereitung auf das Berufsleben sowie die Vermittlung von Werten und Traditionen unseres Gemeinwesens sind die Hauptaufgaben der staatlichen Schul- und Bildungspolitik.
Recht viel konkreter wird das freiheitliche Parteiprogramm in Sachen Bildung nicht. Lesen und schreiben soll man lernen, Werte und Traditionen (wessen?) soll man vermittelt bekommen und ansonsten soll eine Bildungseinrichtung gefälligst aufs Berufsleben vorbereiten! Da bleibt einem doch glatt der Mund offen stehen. Obwohl mans ja ahnen hätte können, wenn man sich Videos von FPÖ-Wahlkampfveranstaltungen ansieht: Bildung ist dort nie groß vertreten, auch nicht als Thema.
Liest Viktor Orbán mein Blog?
Zwar hat er die Grenze nach Serbien (noch) nicht wieder geöffnet. Zwar führt er seine Sonderzüge nicht direkt nach Wien. Aber er hat die Erstaufnahmezentren an der Grenzen zu Serbien ratzfatz räumen lassen und führt keine Registrierung der Einwanderer mehr durch. Stattdessen schickt er die tausenden Paß-Syrer einfach alle an die österreichische Grenze und läßt sie kurz vor Nickelsdorf aussteigen. Soll der Faymann sich drum kümmern, der hat ja gerade noch große Töne gespuckt.
Wie viele Menschen da allein heute vor Österreichs Türen geführt wurden, weiß keiner so genau. Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) spricht von 2.000, ungarische NGOs von 8.000 Personen. Im Ergebnis ist es egal. Orbán hat mit einer drastischen Maßnahme gezeigt, was es bedeutet hätte, wenn er in den vergangenen Wochen auf die Zurufe aus Deutschland und Österreich gehört hätte.
Das einzige, was mir Sorgen macht: Hat er diese Idee selbst gehabt oder liest er mein Blog?
Ihr Auftritt, Herr Orbán!
Vor wenigen Stunden erst hat man in Berlin die Merkel mit Schau! Dort! Ein Vogerl!
abgelenkt und hinter ihrem Rücken genau das gemacht, wofür Ungarn nun so lange geschumpfen worden ist: die Grenzen dicht nämlich. (Deutschland darf das, trotz Schengen, und man hat das in der Vergangenheit auch aus viel nichtigeren Anlässen heraus getan. Ungarn mußte es, eben wegen Schengen.)
Wir haben ja jetzt die Situation, daß sich unser geschätzter Bundeskanzler Faymann gegenüber seinem ungarischen Kollegen mehrfach so richtig nett und diplomatisch verhalten hat. Wie man halt so Freundschaften unter benachbarten EU-Partnern pflegt … Was er den Orbán nicht alles geschimpft hat, unser Faymann.
Und ich denk mir: So schlimm ist der Orbán nicht, so hartherzig und gefühllos. Das geht ihm schon auch nahe, was der Faymann sagt. Wär ich der Orbán … Ich würd jetzt reagieren. Genau jetzt. Auf alle EU-Verträge scheißen, genau so, wie Merkel und Faymann das immer von mir wollten (angeblich). Einfach mal menschlich sein: Die Grenze zu Serbien öffnen, auf jede Registrierung der Migranten pfeifen und die Leut in Sonderzügen bis Wien bringen. So geht nachbarschaftliche Zusammenarbeit. Auch mal machen, was der Faymann will, nicht?
(OK, aber ich bin nicht Herr Orbán, ich bin nur manchmal ein bißchen bösartig.)
Ich wär gespannt, wie dann die Hashtag-Events auf den Wiener Bahnhöfen weitergehen würden. Dort konnte man bisher unbeschwert den glücklichen Gesichtern im Zug nach Deutschland nachwinken im Wissen, sie nie wieder zu sehen. Wenn diese Menschen alle stattdessen einfach am Bahnhof bleiben und der Hauptbahnhof ein zweiter Keleti wird, mit tausenden protestierender Einwanderer, die sich einer Überstellung nach Traiskirchen oder sonstwohin widersetzen … Was dann passiert, kann ich nicht abschätzen. Damit befinde ich mich in guter Gesellschaft: Auch unsere Regierung, die bisher immer wußte, was zu tun war (zumindest: was in Ungarn zu tun war), kann die Auswirkungen der von Deutschland heute gesetzten Maßnahme trotz einer Krisensitzung noch nicht abschätzen
. Vielleicht sollte zur Abwechslung mal der Orbán dem Faymann Ratschläge erteilen?
Wien-Wahl: Koalitionsoptionen
- Das Rennen zwischen FPÖ und SPÖ um den ersten Platz ist offen. Zwar gibt die Umfrage (so wie jede andere auch) jeweils knackige Prozentwerte für die Parteien an, nach denen die SPÖ vorne liegen würde. Tatsächlich muß man sich aber ansehen, wie groß die Schwankungsbreite der Umfrage ist. Da sind Freiheitliche (27% bis 37%) und Sozialdemokraten (29% bis 39%) im gleichen Bereich unterwegs, eine Vorhersage über den ersten Platz läßt sich nicht ableiten.
- Ebenso offen ist die Situation bei den Plätzen drei und vier. Die Grünen (10%-16%) und die ÖVP (8%-14%) sind nicht weit genug auseinander.
- Statistisch gesichert scheint nur, daß die NEOS auf dem letzten Platz landen. Ob sie überhaupt die 5%-Hürde überspringen, ist noch nicht gesagt bei einer Schwankungsbreite zwischen 4% und 8% für diese Partei. Es ist aber sehr wahrscheinlich.
Über die drei anderen antretenden Listen macht die Umfrage keine Aussage. In Summe werden ihnen 2%-6% zugetraut.
Neuwal.com hat versucht, anhand der Umfragedaten eine mögliche Mandatsverteilung mit Koalitionsvarianten zu errechnen. Hier gibt es einen Knalleffekt:
Es geht sich außer FPÖ/SPÖ keine Zweierkoalition aus. Die Verluste der SPÖ machen rot/grün unmöglich, die der ÖVP verhindern blau/schwarz.
Damit haben wir als eine Möglichkeit eine Revolte innerhalb der SPÖ, den Sturz von Häupl und das Modell Burgenland auch in Wien.
Eine zweite Möglichkeit ist die Dreierkoalition, die wohl dann kommen wird, wenn Häupl das Ruder in der Hand behält. Welche Konstellationen sind da rechnerisch denkbar? Rot/schwarz/grün theoretisch, rot/pink/grün und rot/pink/schwarz ebenfalls. Diese drei verlieren an Wahrscheinlichkeit, wenn man sich die Aussage der NEOS aus dem Jahr 2014 in Erinnerung ruft: Die Roten aus dem Sattel heben
wollte man da - und eine Zusammenarbeit mit der FPÖ im Rahmen einer kreativen Lösung
, solange nur Strache nicht Bürgermeister wird. Das spricht klar gegen eine NEOS-Beteiligung an jeder Koalition, die die SPÖ mit einschließt. Die letzte Hoffnung der Sozialdemokraten, rot/schwarz/grün, schwindet damit aber ebenfalls: Es spricht viel für ein Angebot der NEOS an die NEOS-Mutter ÖVP: Steig mit uns und der FPÖ ins Bett und laß Dich gar nicht erst auf Koalitionsgespräche mit Häupl ein. Das geht sich nämlich nach den aktuellen Umfragewerten aus, die rechts/rechts/rechts-Kombination aus FPÖ, ÖVP und NEOS.
Ich frag mich grad, was mir lieber wär: Eine von der SPÖ noch halbwegs in Schach gehaltene FPÖ um den Preis des Todes der SPÖ - oder ein völlig unkontrolliertes Irrlichtern dreier (!) rechter Kräfte in der Stadt, das dem Wähler nach einiger Zeit wieder die Augen öffnen würde über die Unfähigkeit der einen oder anderen beteiligten Partei (siehe der FPÖ-Absturz auf Bundesebene nach Haiders erster Regierungsbeteiligung). Eigentlich gefällt mir keine dieser Optionen.
Ich zieh den Joker und fordere eine neue Umfrage. *LOL*
Wahlkabine Wien 2015
Es ist die Zeit des Jahres, in der man die wahlkabine.at besucht, um kurz den politischen Kompaß zu überprüfen. Stimmt die ins Auge gefaßte Wahlentscheidung in etwa mit den Programmen und Aussagen der Parteien überein? Bei mir nicht - aus gutem Grund. :)
Was bekomme ich für ein Ergebnis? Die Wahlkabine vergibt absolute Punkte. Meine Tabelle:
Liste | Punkte |
ANDAS | 275 |
Grüne | 242 |
SPÖ | 88 |
FPÖ | 9 |
NEOS | 4 |
ÖVP | -118 |
(Beeindruckend, wie die Schwarzen noch hinter FPÖ und NEOS ins Minus rutschen. *LOL*)
Wähle ich also nun im Oktober ANDAS? Nein, und ich kann begründen warum. Es sind zwei Hauptgründe:
Einerseits habe ich kein Vertrauen in Wahlbündnisse. Sie sind schnell geschlossen (meist als letzte Hoffnung auf Mandate) und zerfallen genauso schnell wieder, weil inhaltlich ja doch nicht so viel Einigkeit herrscht. Gerade ANDAS bestehen aus unterschiedlichsten Gruppierungen, von denen die einen (KPÖ, Piraten) wenigstens bekannt und daher grundsätzlich wählbar sind, andere jedoch kaum mehr als ein unbekanntes Logo zu bieten haben. Meine Stimme für die Katze im Sack wäre mir zu riskant.
Andererseits scheint ANDAS offenbar gerade bei jedem an erster Stelle auf, der seine Ergebnisse für die Wahlkabine irgendwo im Netz veröffentlicht. Das Programm dürfte relativ beliebig die populärsten Punkte abdecken, ohne irgendwem weh zu tun. Das probiert die FPÖ auch gerade - nur halt auf der anderen Seite der Wählerteichs, wo die Leute noch nicht begriffen haben, daß das Internet außerhalb von Facebook noch weitergeht. Die kommen gar nicht erst zur Wahlkabine. ;)
Ansonsten aber zumindest keine großen Überraschungen: NEOS und FPÖ werdens eher mal nicht, schätz ich. *LOL*
Lügenpresse
Zwei große Bouldevardzeitungen zeigten dieser Tage, was sie können. (Interessanterweise werden Scans beider Artikel ausgerechnet in der Facebook-Haßgruppe gegen den Mariahilferstraßen-Umbau veröffentlicht. Das zeigt, daß sie ihr Zielpublikum erreicht haben.)
Da ist einerseits die Zeitung „Österreich“, die ein Loblieb auf Johanna Mikl-Leitner singt. Ein neues Konzept für Sicherheit auf der MaHü
, ein Sieben-Punkte-Programm
habe sie offengelegt, heißt es. Implizit wird damit unterstellt: Die Kriminalität dort ist so hoch, daß man ein ganzes Bündel eigener Maßnahmen benötigt. Ich bin stutzig geworden, weil von erhöhter Kriminalität bisher nie etwas zu hören war. Drei Frauen haben in einem Geschäft Handtaschen gestohlen - für eine Einkaufsstraße mit rund 260.000 Kunden wöchtenlich ist das nicht so aufregend, daß es ein Sieben-Punkte-Programm
rechtfertigt.
Gottseidank kann man im Internet nachlesen, was die Innenministerin wirklich gesagt hat - und aus welchem Anlaß. Im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage nämlich hatte die FPÖ behauptet, die (roten und grünen) Bezirksvorsteher würden gegen Polizeistreifen in der Fußgängerzone protestieren. Sie wollte wissen, mit welchen Mitteln das Innenministerium zukünftig die „Sicherheit der Wirtschaftstreibenden“ garantieren wolle. Mikl-Leitner hat in ihrer knappen Anfragebeantwortung die blauen Behauptungen ins Reich der Phantasie verwiesen und darüber hinaus aufgezählt, welche Maßnahmen die Polizei sowieso für Sicherheit und Prävention setzt. „Österreich“ macht aus der Aufzählung von Standardmaßnahmen (Streife fahren, Beratungstätigkeit) ein aufregendes Maßnahmenbündel für die Zukunft und trifft dabei genau den Nerv der dankbaren FPÖ-Wählerschaft auf Facebook. SMS Warnungen, mensch [sic] ich will nicht wissen was der ganze unnötige Scheiß wieder kostet.
, geifert dort einer. Trotzdem kläre ich hier auf: Die SMS-Warnungen werden seit 2006 an die Kaufleute der Wiener Einkaufsstraßen verschickt, die Kosten dafür trägt die Wirtschaftskammer. Die mysteriöse Beratungsstelle in der Andreasgasse
entpuppt sich als das altbekannte „kriminalpolizeiliche Beratungszentrum Wien“, zu dem die Polizei seit Jahren die Besucher diverser Seniorenmessen karrt.
So weit, so „Österreich“. Aber auch die „Krone“ kanns. In einem Artikel über Minister Kurz schwenkt der Autor unmotiviert auf die Grünen und präsentiert eine Liste von Verboten, die die Grünen angeblich durchsetzen wollten. Kaugummiautomaten, Fiaker, heliumgefüllte Luftballons, Ölheizungen, PC-Spiele, Rauchen an Straßenbahnhaltestellen, … all das wollen die Wiener Grünen laut „Krone“ verbieten. Allein: Die Suchmaschine meines Vertrauens findet dazu nichts. Ja, ein Rauchverbot an Straßenbahnhaltestellen wurde tatsächlich verlangt - von der Ärztekammer. Ja, ein Verbot von Ölheizungen wurde diskutiert - von österreichischen Unternehmern. Ja, ein Verbot von Fiakerfahrten in der City wurde gefordert - von der FPÖ für Hitzetage mit über 30°.
Natürlich interessiert das alles niemanden, der die „Krone“ liest - und erst recht niemanden, der in der Facebook-Haßgruppe kommentiert. Die Realität wird sowieso überbewertet. Verbotspartei!
, schreit man da und ist sofort mit Erklärungen zur Hand, in denen die Bilderberger und das Geld vom Rothschild eine Rolle spielen. Herr, laß es Alufolien regnen …
Wundert noch jemanden, warum der Journalismus so hoch geschätzt wird in Österreich?
Die Steuerreform steht - leider
Nein, niemand ist aufgewacht. Das Ding ist beschlossen worden. Ich möchte jetzt nicht auf Details eingehen oder auf die Versäumnisse rund um vermögensbezogene Steuern. Es gibt ein zentrales Thema, dem man sich widmen muß und das das Versagen auf ganzer Linie aufzeigt. Das ist die Anpassung der Tarifstufen bei der Einkommenssteuer.
Was sollte denn passiert sein? Was wäre denn die sinnvolle (und teilweise auch versprochene) Zielsetzung gewesen? Ein Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen, die von den höheren zumindest teilweise mitfinanziert wird.
Was haben wir bekommen? Eine Entlastung praktisch aller Einkommen, bis hinauf zu Millionären mit Jahreseinkommen um die € 1.200.000,- brutto. Noch perverser: Hohe Einkommen profitieren sogar stärker von der Reform als niedrige.
Um meinen Frust zu verstehen, muß man wissen, was ein niedriges, ein mittleres und ein hohes Einkommen ist. Hier hilft die Statistik Austria. (Wir ignorieren dabei den Unterschied zwischen zu versteuerndem Einkommen und Bruttoeinkommen; außerdem sehen wir uns nur die unselbständig Beschäftigten an - die Selbständigen fallen nicht nur zahlenmäßig kaum ins Gewicht, sie haben im Schnitt auch deutlich niedrigere Einkommen):
- 25% verdienen weniger als € 11.283,- brutto im Jahr. Gefühlsmäßig und ohne Rücksicht auf geltende Steuersysteme würd ich sagen: Das ärmste Viertel der Bevölkerung, das sind jedenfalls die niedrigen Einkommen.
- 25% verdienen mehr als als € 40.155,- brutto im Jahr. Auch hier sagt mein Bauchgefühl: Das reichste Viertel der Bevölkerung, das sind wohl die, die man mit hohen Einkommen meint.
- Die rund 50% dazwischen - das ist die breite, von der Politik angeblich so umworbene Mittelschicht. Jahreseinkommen zwischen € 11.283,- und € 40.155,-. Rund die Hälfte der Wählerschaft.
Ausgehend von diesen Zahlen (aus dem Jahr 2013 übrigens) würde man jetzt erwarten: Die Reform entlastet Einkommen bis ca. € 40.000,- stark und schleift sich darüber hinaus langsam ein, bis die obersten 20%, vielleicht auch nur die obersten 10%, durch die Steuerreform sogar mehr belastet werden als bisher. (Die obersten 20% wären Bruttojahreseinkommen ab € 44.623,-, die obersten 10% beginnen ab € 59.334,-.)
Was ist stattdessen tatsächlich passiert? Es gibt knapp 400 superreiche Österreicher, die durch die Steuerreform geringfügige Nachteile zu verbuchen haben. Das sind jene, die trotz aller steuersparender Tricks noch mehr als € 1.200.000,- an Jahreseinkommen nicht vor dem Finanzamt verstecken können. Die zahlen zukünftig tatsächlich ein paar Euro mehr als vor der Reform. Das Mitleid kann sich aber in Grenzen halten: Die entsprechende Grundlage im Gesetz ist auf fünf Jahre befristet.
Wie weit profitieren die anderen? Das Finanzministerium hat einen sogenannten Entlastungsrechner zur Verfügung gestellt:
Ein Kleinverdiener mit etwa € 11.200,- Jahreseinkommen wird um volle € 290,- im Jahr entlastet. Der besserverdienende Angestellte mit dem Medianeinkommen von € 25.767,- brutto (er steht mit seinem Verdienst also exakt in der Mitte der Gesellschaft) darf sich über € 848,- freuen, die ihm am Jahresende erspart geblieben sind. Seinem Kollegen aus den reichsten 10% unseres Landes, der € 59.334,- im Jahr verdient, bringt die Reform € 1.585,- und damit fast 6x so viel wie der angeblichen Zielgruppe, den Kleinverdienern. Selbst Einkommensmillionäre müssen sich keine Sorgen machen (Stichwort Millionärssteuer - aber wo): Wer jährlich genau € 1.000.000,- brutto verdient, wird durch die Steuerreform nochmal um € 2.146,- pro Jahr reicher.
Zusammengefaßt heißt das: Diese Steuerreform perfektioniert genau das, was die seit den 1980er-Jahren ohne Unterbrechung ÖVP-dominierte Wirtschaftspolitik bereits laufend betrieben hat. Sie scheffelt das Geld von den unteren Einkommensschichten hin zu den oberen. Wann immer im Zusammenhang mit dieser Reform von einer „Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen“ die Rede ist, ist das gelogen. Es sind die Reichen, die spürbar entlastet werden. Die breite Masse wird mit kosmetischen Almosen abgespeist.
Syrien: Muß denn Europa alle Flüchtlinge aufnehmen?
So oder so ähnlich hört mans immer wieder in letzter Zeit, und je öfter mans hört, desto eher stimmt man zu. Wer viel in den Abwasserkanälen des Internet unterwegs ist, liest das dann auch noch garniert mit dem Vorwurf der Faulheit (Unsere Leute sind auch geblieben und haben das Land nach dem Krieg wieder aufgebaut!
) und natürlich der Abzockerei (Bei uns wird denen halt alles hinten reingeschoben!
)
Ziemlich unvorbereitet getroffen hat mich heute eine Aufbereitung der Flüchtlingszahlen auf der Seite der Grünen im Europaparlament. Sie macht neugierig - und man kommt schnell drauf, daß die Zahlen falsch sind, mit denen dort operiert wird. Allerdings gibt es seriöses Zahlenmaterial im Web, und das bestätigt zumindest das von den Grünen gezeichnete Gesamtbild:
Die überwiegende Mehrheit der syrischen Flüchtlinge, rund zwei Drittel, bleibt in ihrem Heimatland. Sie fliehen vor den Kampfhandlungen in andere Landesteile, gehen aber nicht über die Grenze. Die, die außer Landes gehen, bleiben in den Auffanglagern der Nachbarstaaten: Die Türkei, der Libanon, der Irak und Jordanien schultern gemeinsam die Last von fast 4 Millionen Flüchtlingen, das ist etwa ein weiteres Drittel. Nur etwa 3,5% der Flüchtlinge zieht es in Regionen, die keine gemeinsame Grenze mit ihrer Heimat haben. Davon geht der größte Teil nach Ägypten (135.000 Menschen) und in die EU (253.859 Asylwerber seit Ausbruch des Bürgerkriegs 2011).
In bunt und zum Angreifen sieht das so aus:
Land | Flüchtlinge |
---|---|
Syrien | 6.500.000 |
Libanon | 1.772.535 |
Türkei | 1.174.690 |
Jordanien | 629.128 |
EU | 253.859 |
Irak | 249.656 |
Ägypten | 134.329 |
Fast 11 Millionen Menschen auf der Flucht, 253.859 davon in der EU. Wie war das nochmal? Muß denn Europa wirklich alle Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen?
Die Verteilung wirkt noch beeindruckender, wenn man die Bevölkerungszahl der einzelnen Staaten mit betrachtet. Im Libanon kommt ein Flüchtling auf 3 Einwohner. In Jordanien ist dieses Verhältnis 1:11, in der Türkei 1:66. Bei uns in der EU kommt ein syrischer Flüchtling auf 2.000 Einwohner. Wie um alles in der Welt entsteht das Bild, daß sich der gesamte Flüchtlingsstrom über die EU ergießt?
In den oben erwähnten Abwasserkanälen des Web hat eine besonders begnadete Tieffliegerin die Zahlen relativiert mit dem Einwand, die EU sei ja wohl auch viel weiter weg als Ägypten oder der Irak. Man könne hier also gar nicht vergleichen …
Nun, ein bißchen Allgemeinbildung schadet nie. Im konkreten Fall ist Geographie gefragt. Ein Blick auf die Landkarte verrät nämlich: Von der syrischen Westgrenze zum nächsten Flughafen auf EU-Territorium sinds gerade mal 200km Luftlinie übers Meer. Wer von der gleichen Ecke Syriens in den Irak möchte, muß hingegen 450km durch Bürgerkriegsgebiet. Auch vom südlichsten Zipfel Syriens nach Ägypten ist es weiter als diese 200km. Nein, die EU ist keinesfalls weit weg
von Syrien. Wir sind quasi unmittelbare Nachbarn. Das sollte man sich vor Augen halten, wenn man Syrien gedanklich weit fort schiebt.
Wir werden alle sterben: Wie die Politik versagt
Den gestrigen Wahlsonntag irgendwie vorhergesehen hat zum Beispiel Michel Reimon bereits am 16. August 2011. In seiner zu 100% lesenswerten Analyse „Die Hegemonie der Abstiegsangst“ wirft er den Machthabern, aber auch seinen eigenen Parteikollegen in der Opposition einige unschöne Wahrheiten um die Ohren. (Hören will die bis heute freilich keiner.)
Ich erlaube mir, zwei seiner Gedanken kurz anzureißen und mit meinen eigenen Beobachtungen zu würzen:
Populistische Parteien wie die FPÖ müssen nichts tun, um erfolgreich zu sein. Sie leben von der Abstiegsangst vor allem derer, die ohnehin nur wenig haben. Es sind die Leute, die vom Leben nichts mehr erwarten, keine Hoffnungen und Träume mehr haben, nur mehr die Sorge, es könne ihnen morgen schlechter gehen als heute, die der FPÖ auf den Leim gehen. Die Freiheitlichen bieten nämlich etwas unschätzbar Wertvolles: den Schuldigen, den Dieb, der diese diffuse Abstiegsangst fortwährend nährt und konkretisiert. So tief unten kann ein wahlberechtigter Österreicher auf der sozialen Leiter gar nicht stehen, daß ihm die FPÖ nicht jemand noch ärmeren, noch chancenloseren präsentieren könnte. Auf den muß man heruntertreten und sagen: „Nein, streck Deine dreckigen Pfoten erst gar nicht aus, von meinem Tisch bekommst du nichts! Ich könnte morgen selbst schon kaum noch genug haben.“
Diese Abstiegsangst wirkt, und die FPÖ ist ausschließlich dort erfolgreich, wo sie grassiert: In der Steiermark haben gestern 42% jener Menschen, die nur über einen Pflichtschulabschluß verfügen, die Freiheitlichen gewählt. Von den Akademikern waren es nur 4%. Mit diesen 42% muß man nicht über Politik reden, über die Lust am Gestalten, über eine bessere Zukunft. Die sind nicht empfänglich für Themen, die sie im Leben weiterbringen könnten, für eine Bildungsreform, für Steuergerechtigkeit, für Arbeitsmarktimpulse, für bessere Gesundheitsversorgung, niedrige Kriminalität und eine schnellere Zugverbindung nach Graz. Die wollen einfach nur nichts verlieren.
Das ist der Grund, warum die FPÖ kein Programm hat und auch keines braucht. Ihre Klientel will nichts verbessert und gestaltet haben. Die will einfach möglichst gar nichts verändert haben. Ewiger Stillstand als Preis für den Nicht-Abstieg. Das Drama dabei: Keine andere Partei kommt daran vorbei, zu den von der FPÖ affichierten Slogans Stellung zu beziehen, und sei's nur in TV-Konfrontationen. Mit jeder dieser Stellungnahmen wird die empfundene Bedrohung in der Welt der Ängstlichen realer: Schließlich spricht jetzt auch die SPÖ darüber. Und die ÖVP. Und sogar die Grünen äußern sich. Und plötzlich stehen Themen im Zentrum, die objektiv gesehen im Leben der Menschen hinter dem aktuellen Sonderangebot in der Gartenabteilung rangieren. Ernsthafte Diskussionen über Steuern und Pensionen bleiben auf der Strecke, mit denen gewinnt man kaum Wählerstimmen.
Wie absurd diese Abstiegsangst ist, thematisiert Michel Reimon ebenfalls - und ich bin fast rot angelaufen beim Lesen, weil er auch mich ertappt hat:
Allgemeiner Konsens ist doch: Wir müssen alle den Gürtel enger schnallen. Die Wirtschaft - naja, man weiß nicht so recht. Ob unsere Pensionen noch gesichert sind? Womit werden wir die Hypo-Milliarden zurückzahlen? Krankenhäuser werden geschlossen, an Schulen bröckelt der Putz von den Wänden, Universitäten können weder Forschung noch Lehre angemessen finanzieren, die Polizei hat auch kein Geld mehr … Ein bißchen muß man da doch die Abstiegsängste der unqualifizierten Unterschicht verstehen, oder? Oder?
Bödsinn, sagt Reimon. Und wiederholt einfach nur, was wir eh alle wissen: Wir sind so reich wie noch nie in der Geschichte dieses Landes. Allein seit 1995 hat sich das BIP (ein doch recht brauchbarer Wohlstandsindikator) annähernd verdoppelt. Alles, was in den 1990ern gerade nicht mehr finanzierbar war, könnten wir uns jetzt locker leisten: SimCity-Spieler würden gleich die neue Universität und das Sportstadion bauen, die U-Bahn verlängern und optimistisch in die Zukunft blicken. Die Österreicher sollten fragen: Jetzt, wo's uns so gut geht wie nie, was machen wir mit dem vielen Geld? Wo investieren wir in Forschung und Entwicklung? Welche Infrastruktur-Angebote müssen verbessert werden? Wie können wir mit Investitionen unsere Sozialsysteme nachhaltig sichern? Welche Chancen bieten sich uns? Sie sollten diese Fragen ihren Politikern stellen und zukunftsweisende Antworten verlangen.
Stattdessen sitzen alle - wir alle, mich eingeschlossen - vor der „Zeit im Bild“ und nehmen die bedrohlich über der Innenpolitik schwebende Wolke vom zunehmenden Sparzwang wie ein Naturgesetz hin. Fragt denn niemand, wo der ganze Zaster geblieben ist? Wie kann es sein, daß ein Land seinen Wohlstand Jahr für Jahr vermehrt, sich die Menschen darin aber ernsthaft vom wirtschaftlichen Abstieg bedroht sehen? Wer sind die Leute, die heute um so viel reicher sind als 1995 … und warum konnten sie es auf Kosten unseres tatsächlichen, nicht statistischen berechneten Wohlstandes werden? 8,5 Millionen Österreicher haben dieses Geld als Volkswirtschaft gemeinsam erarbeitet, nur rund 85.000 von ihnen genießen die Früchte dieser Arbeit, während die restlichen 8,4 Millionen sich um ihr Geld real immer weniger leisten können.
Es wird Zeit für eine Politik, die diese Zustände hinterfragt, die die Umverteilung rückgängig macht und wieder alle am gemeinsam gebackenen Kuchen mitnaschen läßt. Vielleicht versteht dann auch ein frustrierter FPÖ-Wähler, daß nach unten zu treten nicht die einzige Perspektive in seinem traurigen Leben ist; daß es ganz im Gegenteil von Jahr zu Jahr besser gehen kann und man sich dafür entscheiden muß, welche Partei dafür die tauglicheren Angebote macht. Und, wer weiß: Vielleicht entschließt sich ja dann auch die FPÖ, endlich solche Angebote zu präsentieren.
Pride in der A1 Videothek
Es ist die Zeit, in der Margaret Thatcher die Fundamente des Wohlstandes in Großbritannien nachhaltig demoliert und eine Politik durchsetzt, die schließlich in ganz Europa zum Ende des sozialen Friedens führen wird. Ihre Tory-Regierung läßt alles niederprügeln, was zu schwach ist sich zu wehren: ethnische Minderheiten, Lesben und Schwule, schließlich auch die streikenden Bergarbeiter. Nachdem Thatcher mit einer Reihe von Gesetzesmaßnahmen das Streikrecht zuvor nämlich so weit eingeschränkt hatte, daß es zur reinen Farce verkommen war, wollte sie die Arbeitsplätze hunderttausender Kumpel auf ihrem neugeschaffenen Hochaltar des Neokapitalismus opfern, Gruben schließen und privatisieren. An den neuen arbeitsrechtlichen Bestimmungen vorbei streikten Minenarbeiter ziemlich genau ein Jahr lang gegen diese Pläne und wurden dabei zu Opfern von Polizeiübergriffen. Zum Überleben waren sie und ihre Familien während dieser Zeit auf Spenden aus der Bevölkerung angewiesen … und erst hier setzt der Film ein, weil die Rahmenbedingungen beim britischen Publikum als bekannt vorausgesetzt werden.
„Pride“ erzählt die Geschichte einer Gruppe von Lesben und Schwulen, die sich unter dem Namen „LGSM“ politisch mit den streikenden Minenarbeitern solidarisieren und Geld für sie sammeln. Das Problem dabei: In der rauen Welt der Gewerkschaften findet sich zunächst niemand, der die Spenden von „solchen Leuten“ annehmen will. Also setzt sich die Gruppe in den Bus, sucht auf der Landkarte ein Bergarbeiterdorf und fährt hin, um das Geld persönlich zu übergeben. Was folgt, ist ein bezauberndes Spiel zwischen Vorurteilen, Dankbarkeit, Solidarität und Lebensfreude. Thatcher kommt nach einem kurzen TV-Auftritt am Beginn nicht wieder vor, ist aber überall präsent, wo Verfall und Trostlosigkeit eingefangen werden. Ebenso düster im Hintergrund: Die Angst vor der damals ebenso neuen wie unbehandelbaren Bedrohung AIDS.
Nur in wenigen Punkten weicht der Film von der historischen Realität ab: Er macht die Aktivistengruppe viel kleiner, als sie war. Er überzeichnet die anfängliche Ablehnung durch einige Dorfbewohner, aus der er ja einen Großteil seiner Komik schöpft. Er erwähnt nicht den (partei-)politischen Hintergrund einiger Gründungsmitglieder von LGSM. Ansonsten aber hält er sich für einen Unterhaltungsfilm erstaunlich eng an die Fakten. Das Benefizkonzert „Pits and Perverts“ mit Bronski Beat gab es wirklich und spielte nach heutigem Geldwert rund € 30.000,- ein. Der Kleinbus der Streikposten mit der Aufschrift „Donated by: Lesbians & Gay Men Support The Miners · London“ sah genauso aus wie im Film. Ebenfalls nicht nur rührende Schlußszene, sondern historische Wahrheit ist die Teilnahme der Kumpel aus Wales an der Gay Pride Demo 1985 in London, der ersten nach dem Streik. Drehbuchautor Stephen Beresford verwendet sogar einige wörtliche Zitate der damaligen Akteure in seinen Dialogen.
Nur mehr im Nachspann kurz erwähnt ist eine der wichtigsten politischen Auswirkungen: Zum wiederholten Mal stand 1985 beim Parteitag der Labour Party der Antrag an, das Thema Schwulen- und Lesbenrechte ins Parteiprogramm aufzunehmen. Zum wiederholten Mal wollte die Parteiführung den Antrag ablehnen lassen, weil sie um Wählerstimmen fürchtete. Es war die Gewerkschaft der Minenarbeiter, die aus der vorgegebenen Parteilinie ausscherte und den Antrag schließlich mit ihren Verbündeten durchboxte.
Einen Trailer gibt es auf YouTube zu sehen. Ebenfalls auf YouTube: Ein aufgrund der optischen Ähnlichkeit einiger Hauptdarsteller mit den realen Figuren fast gruseliges Amateurvideo aus dem Jahr 1986, in dem die echten Akteure der Geschichte in VHS-Qualität zu Wort kommen.
Man kann „Pride“ als Film über den Sozialismus und die Arbeiterbewegung verstehen. Man kann ihn als Schwulen- und Lesbenfilm, als Coming-of-Age-Movie oder als Culture-Clash-Komödie verstehen. Es kommt auf den Standpunkt an. Für mich ist es ein Film über Politik in einer ihrer wichtigsten Formen: Er zeigt, was Menschen erreichen, wenn sie sich umeinander kümmern, einander nicht egal sind, füreinander einstehen. Nicht umsonst ist der Handschlag ein immer wiederkehrendes Motiv während der 120 Minuten. Im VHS-Video aus 1986 sagen es alle Beteiligten auf die unterschiedlichste Weise noch einmal: Man kann und darf in der Politik nicht (nur) für seine eigenen Interessen eintreten. Es geht um Solidarität. Es geht darum, gemeinsam auch gegen das Unrecht anzutreten, das anderen widerfährt.